21.05.25 Forscherinnen untersuchen Corona-Maßnahmen

Doch die Resonanz erinnert fast an Verdrängung

Von Claudia Rindt

Konstanz Es war ein Drama: Während der Corona-Pandemie durften Angehörige, Seelsorger und Physiotherapeuten zeitweise überhaupt nicht oder nur unter massiv erschwerten Bedingungen in Pflegeheime – selbst wenn sie Sterbende begleiten wollten. War das nun der nötige Schutz vor der Infektion? Oder schadete die soziale Isolation mehr als sie nützte? Bei der Debatte im Konstanzer Seniorenzentrum über das Corona-Dilemma melden fast alle Besucher, dass sie die damaligen Maßnahmen heute für überzogen halten. Doch zur Veranstaltung des Altenhilfevereins im Verbund mit dem Seniorenzentrum kommen nur zwei Handvoll Gäste.

Warum so wenige? War es die Warnung vor Unwetter an diesem Tag? Desinteresse? Oder doch die Weigerung, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen? Das vermutet jedenfalls eine Frau, die so wie andere anonym bleiben will. Eine andere sagt, man müsse dieses unangenehme Kapitel aufarbeiten. Es zu übergehen, würde bedeuten, dass die Problematik weiter im Verborgenen wirkt. „Darunter brodelt es.“

Nathalie Heinz und Sophie Stephan verdrängen nichts. Beide sind Doktorandinnen im Bereich Biomedizin, Ethik und Recht an der Universität Zürich. Sie untersuchen das Corona-Dilemma in Pflegeheimen und arbeiten Empfehlungen aus. Denn in der Schweiz will man sich vorbereiten auf eine Lage, in der das öffentliche Leben wieder durch eine Pandemie beeinträchtigt wird. Deshalb fördert der Schweizerische Nationalfonds die Untersuchung von 25 Themen zum Thema Covid-19. In der Veranstaltung in Konstanz legen die beiden Doktorandinnen ihre Erkenntnisse dar.

Sie haben 671 Heime in der Schweiz mit durchschnittlich 76 Betten untersucht und zeigen, dass es von Kanton zu Kanton unterschiedlich war, wie strikt Corona-Maßnahmen umgesetzt wurden. Kantone, die nah an Italien liegen, waren sehr streng. Denn das italienische Bergamo gehörte zu den besonders betroffenen Regionen. Die Krematorien dort waren überlastet, Militärkonvois brachten die Toten aus der Stadt. Darüber wurde europaweit berichtet. Im Kanton Tessin konnten die Doktorandinnen kein einziges Interview mit Vertretern von Heimen oder Angehörigen führen. Warum? Es laufen Klagen gegen Heime, etwa, weil ein Maler Zugang bekam, nicht aber der Seelsorger.

Ihr Fazit: Ärzte wie Angehörige hätten die Isolation als negativ in Erinnerung. Mediziner sagten vielfach: Der Angstpegel bei Bewohnern sei gestiegen, Lebenswille verloren gegangen. Eine Hinterbliebene berichtet, was ihre Mutter feststellte: „Ja, aber im Krieg durften wir einander umarmen.“ Heinz und Stephan berichten, wie Heimbewohner und Angehörige zu berührungslosen Begegnungen hinter Glasscheiben gezwungen wurden, nur verbunden durch Telefone, und bemängeln, dass ältere Menschen in Heimen nicht selbst entscheiden durften, das Risiko einer Infektion einzugehen. Es wurde einfach über sie bestimmt.

Die Forscherinnen empfehlen, künftig die Stimmen von Bewohnern und Angehörigen einzubeziehen, wenn es um Pandemiemaßnahmen geht, soziale Aktivitäten nie komplett auszusetzen und Bewohnern mindestens einmal die Woche den Zugang zur frischen Luft zu ermöglichen. Luise Mitsch, die Vorsitzende des Konstanzer Altenhilfevereins, sagt dazu: „Jeder Gefängnisinsasse hat Freigang.“ Unbedingt notwendig sei es auch, Angehörige zu Sterbenden zu lassen, um ihnen einen würdevollen Abschied zu ermöglichen.

Doch auch Gutes habe die Pandemie bewirkt. So bemerkten Pflegeteams den Zusammenhalt, Menschen auf den Stationen freuten sich, wenn jemand von einer Corona-Infektion genesen war, in den Heimen sind die vielen Zeichnungen in Erinnerung, die von Kindern eintrafen. Eine Frau aus Konstanz sagt, die Sozialbetreuung habe durch Corona einen neuen Stellenwert bekommen. Sie werde als wichtig wahrgenommen. Luise Mitsch fasst zusammen: „Der Mensch braucht den Menschen.“ Auch Mitsch, die seit 25 Jahren Heimfürsprecherin im Haus Talgarten ist, haben die Folgen der sozialen Isolation in Pflegeheimen beschäftigt. Vor allem Menschen mit Demenz sei sie nicht zu vermitteln gewesen. Sie sei auf die Idee gekommen, den Bewohnern zu zeigen, dass sie nicht vergessen sind. Die Vorsitzende des Altenhilfevereins organisierte 15 Mutmacher-Aktionen für die 740 Menschen in Konstanzer Pflegeheimen. Die Bewohner bekamen etwa Blumen, Früchte oder Musikdarbietungen.

Sybille Gehring, Leiterin des Konstanzer Seniorenzentrums, stellt fest, Corona sei auch für ihr Team ein tiefer Einschnitt gewesen. Man habe die Einrichtung zeitweise schließen müssen. „Die Pandemie hat unsere Kreativität gefordert.“ Um Kontakt halten zu können, habe man Telefonketten organisiert sowie Schreib- und Erzählaufgaben für Menschen in Pflegeheimen. Als die Räume wieder für Geimpfte oder Genesene zugänglich waren, habe das Team völlig ungewohnte Kontrollaufgaben wahrgenommen. Es sei sehr schwer gewesen, Menschen abweisen zu müssen, nur weil sie nicht die entsprechenden Papiere vorlegen konnten.

Waren die Corona-Maßnahmen in Pflegeheimen hilfreich oder zu streng? Nathalie Heinz (rechts) und Sophie Stephan (Zweite von rechts) untersuchen das wissenschaftlich. In Konstanz stellen die beiden Doktorandinnen aus Zürich ihre Erkenntnisse vor. Sybille Gehring (links, Seniorenzentrum) und Luise Mitsch (Altenhilfeverein) haben zur Debatte eingeladen. Foto: Claudia Rindt

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